Kapitaleffizenz als Tugend

Vom Zwang zur Haltung: Effizienz in Zeiten des Überflusses.

November 2025 · PDF herunterladen


Mehr Kapital = Mehr Effizenz?

Ende 2025. KI ist zum Betriebssystem der Wirtschaft geworden und das Kapital folgt wie gewohnt den lautesten Signalen. Milliarden fließen in Grundlagenmodelle – ihre Anwendungen lösen fast schon Glaubenskriege aus. Und erneut entsteht das Gefühl: Wer jetzt nicht schnell investiert, bleibt auf der Strecke. Viele Investoren erleben denselben Entscheidungsdruck wie in früheren Innovationsphasen.

Kapital ist verfügbar, doch Investoren agieren deutlich selektiver als in der Vergangenheit.1 Es entstehen Unternehmen, deren Finanzierungsrunden größer sind, die jedoch gleichzeitig kapitaleffizienter sind als jede Generation vor ihnen.2

Bei Gründern ist das Bewusstsein gereift, dass Effizienz kein Gegenentwurf zu Ambition ist, wie es 2023 noch der Fall war.3

Viele Gründer agieren heute kapitaleffizient aus Überzeugung und nicht aus Mangel an Alternativen.4

Gründer nutzen Kapital als Katalysator und nicht als Ersatz für Fokus. Sie bauen mit klarer Intention. Sie bauen präzise, weil ‚lean‘ allein nicht mehr reicht. Disziplin heißt heute nicht zwangsläufig weniger Geld zu bewegen. Es heißt mit mehr Kapital einen noch höheren Wirkungsgrad zu erzielen – pro Kopf und pro GPU-Stunde.

Kapitaleffizienz ist also kein Reflex mehr auf Kapitalmangel. Sie ist vielmehr Ausdruck der konsequenten Suche nach Hebeln, die exponentielles Wachstum ermöglichen.

In einer Welt, in der alles skaliert – Daten, Modelle und Komplexität – wird daher nicht Kapital zum Engpass, sondern Präzision.

Der Effizienzkreislauf

Drei Prinzipien prägen die Logik, die ich bei immer mehr Gründern beobachte: Klarheit, bewusste Beschränkung und strukturelle Disziplin.

Wenn man den Blick hebt, erkennt man ein Muster: Moderne Organisationen wirken kleiner, ihre Iterationszyklen sind kürzer und ihre Wachstumsraten steiler.5 Was steckt hinter dieser neuen Effizienz?

1. Klarheit

Jede effiziente Organisation agiert mit intellektueller Klarheit.

KI bestraft das Fehlen klarer Antworten auf diese Fragen. Denn mit der unendlichen Hebelwirkung von KI multipliziert sich jedes Missverständnis. Der Aufbau moderner Unternehmen verlangt daher klares Denken, das zu zielgerichtetem Handeln wird.

2. Bewusste Beschränkung

Wer heute ein Unternehmen aufbaut, beschränkt sich auf das, was wirklich Priorität hat. Jede Grenze wird bewusst gesetzt. Die besten Gründer skalieren Teams nicht um des Wachstums Willen. Sie skalieren den Impact pro Kopf. KI ist für sie Verstärker, nicht Gehhilfe. Mit technologischem Fortschritt steigt daher auch der Anspruch an Neueinstellungen. Jede Position muss den (messbaren) Output der Gesamtorganisation stärken. Diese Herangehensweise öffnet den Blick für die übergeordneten Kennzahlen:

Es geht dabei explizit nicht um Askese, sondern darum verfügbares Kapital bestmöglich einzusetzen.

3. Strukturelle Disziplin

Auf Basis dieser Kennzahlen werden Finanzierungsrunden dann angestoßen, wenn Beweise verdichtet werden können. Beweise, dass das Geschäftsmodell funktioniert. Wenn Finanzierungsrunden konsequent genutzt werden, um Hypothesen zu validieren, zeigt sich strukturelle Disziplin. So werden Wachstumsschritte initiiert, nicht bloß der Runway verlängert. Finanzierungsrunden basieren damit vielmehr auf einer internen Motivation als auf dem Wunsch nach externer Validierung.

Strukturelle Disziplin bedeutet Energie gezielt zu konzentrieren, damit jeder Euro, jeder Mitarbeiter, jede Entscheidung der Validierung des Geschäftsmodells dient.

Der Kreislauf:
Klarheit bildet die Basis für bewusste Beschränkung. Diese führt zu struktureller Disziplin. Und jede Schleife aus Klarheit, bewusster Beschränkung und struktureller Disziplin schärft den Fokus. Das Ziel muss es sein mit jeder Finanzierungsrunde effizienter zu werden. In der Vergangenheit bedeutete Wachstum zwangsläufig Reibungsverluste. Heute besteht die Kunst darin, Entscheidungen so präzise zu treffen, dass sie Reibung bestmöglich vermeiden.

Die Implikationen

Kapitaldisziplin heißt, in 18 Monaten zu erreichen, wofür andere 30 brauchen. Wir befinden uns in einer Marktsituation, in der Kapital wieder reichlich vorhanden ist, aber in der Gründer die Disziplin beibehalten, die sie in der Knappheit erlernt haben. Klarheit, bewusste Beschränkung und Disziplin sind gerade dann wünschenswert, wenn Märkte wieder einmal beginnen zu laut zu werden.

Für Gründer:

Früher war Kapitaleffizienz ein Überlebensprinzip. Heute ist sie ein Designprinzip. Gründer bauen mit mehr finanziellen und technologischen Ressourcen denn je. Alles andere als asketisch, aber eben präzise.

  1. Klarheit: Mehr Kapital erweitert den Handlungsspielraum, aber birgt auch die Gefahr Aktivitäten zu streuen. Klarheit bedeutet genau zu wissen, welche Hypothesen bewiesen werden müssen und welche nicht. Jede Runde sollte einen Beweis verdichten und nicht die Unsicherheit verlängern.
  2. Bewusste Beschränkung: Kapital ersetzt keine Priorisierung. Gründer müssen selektiv bleiben, beim Scope, Headcount und ihren Zielen. Das Burn Multiple ist daher vielmehr ein Tool zur Selbstdiagnose als eine reine Investoren-KPI.
  3. Strukturelle Disziplin: Mit wachsenden Finanzierungsrunden darf der Fokus nicht verwässern. Dabei ist es essenziell ein kritisches Auge auf die Entwicklung von Komplexität innerhalb des Unternehmens zu haben.

Die Haltung hat sich gedreht: Gründer müssen keine Minimalisten sein. Sie müssen aber genau wissen, wo jeder investierte Euro die stärkste Wirkung entfaltet. Ursprung dieser Denkweise ist ein Mentalitätswechsel, der sich in den Jahren 2020/2021 eingestellt hat. Hohe Bewertungen ohne tatsächliche Liquidität haben vielen Gründern allzu deutlich gemacht, dass Werte nur dann entstehen, wenn sie auch tatsächlich realisiert werden können. Eine Desillusionierung, die den Blick auf Profitabilität geschärft hat.

Für Investoren:

Sobald Kapital wieder reichlich fließt, wird nicht mehr das Finanzierungsvolumen zum Signal, sondern das realisierte Ergebnis. Kapitaleffizienz bleibt damit Qualitätssignal, denn Effizienz bedeutet im besten Fall Hebelwirkung. Es würde mich nicht überraschen, wenn zukünftig Umsatzmeilensteine häufiger kommuniziert werden als reine Finanzierungsrunden.7

Entscheidungskriterien:

  1. Klarheit: Kann das Team Prioritäten benennen? Anhand welcher Metriken kann die Umsetzung dieser gezeigt werden?
  2. Bewusste Beschränkung: Korreliert Komplexität mit Umsatzwachstum oder kann sie im Rahmen gehalten werden?
  3. Strukturelle Disziplin: Was ist die Motivation für die Finanzierungsrunde? Verdichten sich die Beweise für den Erfolg oder endet der Runway?

Kapitaleffizienz wird so zum gemeinsamen Nenner zwischen Gründern und Investoren. Sie ist längst keine defensive Haltung mehr, sondern eine aktive Strategie. Vielleicht kehrt damit wieder etwas Tugend ins Venture Capital zurück.


  1. Carta (2025): ‘State of Private Markets: Q2 2025’, https://carta.com/data/state-of-private-markets-q2-2025.
  2. ICONIQ Capital (2025): ‘State of Software 2025: Rethinking the Playbook’, https://www.iconiqcapital.com/growth/reports/2025-state-of-software.
  3. Shaverskyi, TechCrunch (2023): https://techcrunch.com/2023/04/27/capital-efficiency-is-the-new-vc-filter-for-startups/.
  4. Die Beobachtungen beziehen sich vor allem auf digitale, software-getriebene Geschäftsmodelle. DeepTech oder Science-basierte Gründungen folgen naturgemäß anderen Dynamiken.
  5. Moore & Andrusko, Andreessen Horowitz (2025): ‘What “Working” Means in the Era of AI Apps’, https://a16z.com/revenue-benchmarks-ai-apps/.
  6. Stebbings (2025): ‘Are Burn Multiple BS in an AI world?’ 20VC Podcast, https://www.youtube.com/watch?v=j4uXoaRVoCQ.
  7. unter anderem: Lewin, A., Sifted (2025): ‘Lovable hits $100m ARR.’ https://sifted.eu/articles/lovable-hits-100m-arr oder businesswire (2025): ‘Usercentrics Surpasses €100m ARR…’ https://www.businesswire.com/news/home/20251014687594/en/Usercentrics-Surpasses-%E2%82%AC100M-ARR-%24117M-USD-as-Market-Leader-in-Data-Privacy-Paving-the-Way-for-Privacy-Led-Marketing